Predigt des Bischofs Dr. Bertram Meier bei der bundesweiten Eröffnung der MISEREOR-Aktion 2023 am 26. Februar 2023 im Hohen Dom zu Augsburg

„Wähle das Leben!“

Wie gelingt mein Leben? Was ist überhaupt ein „gutes Leben“? Wir Christinnen und Christen gehen von einer wichtigen Voraussetzung aus: Wir haben uns das Leben nicht selbst gemacht. Ein selbstgemachtes Leben – nichts als Mache! Wir haben das Leben empfangen. Unser Leben kommt von Gott! Wir glauben nicht an Zufall, wir vertrauen einem Gott, der ein Freund des Lebens ist. Als solcher haucht er dem Menschen nicht nur den Lebensatem ein: Von der Zeugung bis zum natürlichen Tod sorgt er sich um jede und jeden von uns wie eine zärtliche Mutter und ein liebender Vater. Der Garten Eden, von dem wir in der ersten Lesung aus dem Buch Genesis hörten (vgl. Gen 2,8), ist das Sinnbild einer Schöpfung, die dem Menschen alles bereitstellt, was er zum Leben braucht. 

Doch damit nicht genug! Gott schenkt mehr: Er setzt Maßstäbe, wie unser Leben im Einklang mit der Schöpfung gelingen kann. Wie geht das? Der Mensch muss sich beschränken, er achtet die eigenen Grenzen und freut sich zugleich an seiner Größe. Jeder Mensch ist von Gott geliebt. Es gilt nicht mehr: Cogito, ergo sum, sondern: amor, ergo sum. Nicht mehr: ich denke, also bin ich, sondern: ich bin geliebt, also bin ich. Wenn Gott uns Grenzen setzt, dann nicht, um uns klein zu halten. Im Gegenteil: Weil Gott uns über alles liebt und nichts Anderes will als unser Heil, möchte er uns bewahren vor Anmaßung und Größenwahn.  

Es wär' so schön gewesen im Garten Eden! Doch wir wissen, wie die Geschichte weitergeht. Mit dem vorsätzlichen Handeln gegen Gottes Gebot, symbolisiert durch den berühmten Apfel, vergreift sich der Mensch. Grenzüberschreitung! Er gibt sich nicht damit zufrieden, nur ein Teil der Schöpfung zu sein: Er schwingt sich zum Schöpfer auf. Die Folgen sind fatal: Vertreibung aus dem Paradies und ein mühevolles Leben auf dieser Erde. Soweit die biblische Erzählung. 

Was heißt das für uns? Das Thema der Fastenaktion (Frau.Macht.Veränderung) hält uns den Spiegel hin. Ich muss ehrlich sagen, dass die kirchliche Deutung des Sündenfalls lange Zeit zu Ungunsten der Frau ausfiel. Die Schuld für die Ursünde der Menschheit wurde gern Eva, der Frau, in die Schuhe geschoben. Frau und Kirche: eine Leidensgeschichte, die – Gott sei’s geklagt – weder überwunden noch auserzählt ist. Dabei lässt ein Blick in die Kulturgeschichte wenig Zweifel daran, dass gerade wir Männer besonders anfällig sind für Hochmut und Macht. Umgekehrt lehrt die Erfahrung, dass es oft Frauen sind, die als Heldinnen alles geben, um dem Leben zu dienen. Sie kämpfen ums Überleben ihrer Kinder und den Schutz der Familie. Ich kenne Frauen, die in Diktaturen mutig ihre Stimme erheben für Freiheit, gegen Unterdrückung und Gewalt: echte Anwältinnen des Lebens, wo das sog. starke Geschlecht sich längst weggeduckt hat. Vielerorts handeln Frauen innovativ, sie werden initiativ und nehmen Dinge in die Hand, weniger aus persönlichem Machtinteresse, sondern um das Leben für sich und andere zu verbessern. Das zeigen unsere Gäste, die MISEREOR eingeladen hat. Da ist Sr. Modestine, die hier vorne im Altarraum sitzt: Mit dem von MISEREOR geförderten Projekt „Vahatra“ hilft sie Frauen, unabhängig und selbstbestimmt zu leben, z.B. durch Weitergabe von landwirtschaftlichem Know-How. Auch der zweite Gast, Frau Taratra Rakotomamonjy, vertritt eine Reihe von Leuten, die Rechte von Frauen und Kindern verteidigen, Bildungschancen insbesondere für Mädchen fördern sowie die Stellung der Frau in der weitgehend patriarchalen Gesellschaft Madagaskars heben. Die MISEREOR-Aktion ist ein Appell, das Engagement dieser inspirierenden Persönlichkeiten zu unterstützen. Liebe Frauen, Ihr seid stark! Ich prophezeie: Die Zukunft der Kirche ist weiblich. 

Doch wir wollen nicht nur in die Ferne schweifen! Es ist leicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Fangen wir bei uns an! Oft sind wir es in den reicheren Industriestaaten, die durch konsumorientiertes Denken und unsolidarische Art seit Jahrzehnten Grenzen überschreiten, auf Kosten anderer leben und Leid in vielen Teilen der Welt verursachen. Zugleich schaden wir uns selbst, weil wir Tugenden verlieren, die dem guten Leben dienen: Mäßigung, Gerechtigkeit, Zufriedenheit. Ich erinnere an die Begegnung Jesu mit dem Teufel in der Wüste, die das Evangelium erzählt: Dreimal will der Versucher den Menschensohn dazu locken, seine Demut und Genügsamkeit aufzugeben, die Beziehung zum Vater im Himmel zu lösen und dem zu folgen, der Reichtum und Macht verspricht. Aber Jesus weiß genau, was los ist. Er tappt nicht in die trügerische Falle. Wie viele Menschen landen im Unglück, weil sie meinen, durch Konsum den Sinn fürs Leben zu finden. Pustekuchen, weit gefehlt! Jesus widersteht den Versuchungen des Bösen und bietet uns etwas Anderes: „Leben in Fülle“ (Joh 10,10), geprägt von der freundschaftlichen Beziehung zu Gott und dem Nächsten. 

Die Fastenzeit ist eine gute Gelegenheit nachzuspüren, wer und was unser Leben bestimmt. Was ist mir heilig? Wo werden „Früchte“ angeboten, die süß und verlockend erscheinen, letztlich aber wegführen von Gott und damit den inneren Frieden, das Seelenheil gefährden? Habe ich die Kraft „Nein“ zu sagen zu allem, was mir und anderen schadet? Es gibt so viele Situationen, in denen ich mich entscheiden muss zwischen dem, was dem Leben dient, und dem, was mich über kurz oder lang ins Verderben stürzt. Wähle das Leben! Schon das Alte Testament bringt es treffend auf den Punkt: „Den Himmel und die Erde rufe ich heute (…) als Zeugen an. Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen.“
(Dtn 30,19)